Chef-sein neu definieren - Peter Gress

Chef-sein neu definieren

Ist-Zustand

Unser Salon ist 140 Quadratmeter groß. Das beinhaltet Salon, Verkauf, Rezeption, Sanitärräume, Küche und Aufenthaltsraum. Für den Salon (7 Schnittplätze, 8 Färbeplätze, 3 Waschplätze) stehen ca. 90 Quadratmeter zur Verfügung. Auf der Fläche sind wir inklusive Chefs und Rezeption 16 Mitarbeiter. Wenn alle da sind ist es in den überlappenden Zeiten knallvoll.  Wir haben die Öffnungszeiten verlängert und zwei Teams eingerichtet, damit wir den Salon von Montagmorgen bis Samstagnachmittag befeuern können. Wir kommen derzeit auf 57 Öffnungsstunden pro Woche. Wir haben Kunden und Mitarbeiter, die zu uns passen. Wir haben wenig Preisdiskussionen. Wir haben ein super Standing am Markt und wir haben zurzeit keine Nachwuchssorgen. Trotzdem müssen wir mehr Gas geben und besseres Marketing, vor allem Mitarbeitermarketing, machen.

Es ist kein Geheimnis, dass man im Laufe der Zeit betriebsblind wird. Mich ärgert es immens, dass ich mich immer wieder davon abbringen lasse, mein Salon-Marketing ständig zu beobachten. Das MUSS sein. Sonst schläft es ein und wird beliebig. Der Wettbewerb schläft ja schließlich nicht.

Die Chef-Rolle neu definieren

Ich schreibe diesen Artikel zwischen meinen Haarschnitten an einem Stehtisch im Daily Business-Räumchen neben der Garderobe. Kunden laufen vorbei zur Rezeption, Mitarbeiter begrüßen und verabschieden Kunden, es herrscht Stimmengewirr und jeder läuft an mir vorbei. Ich bin die Muräne in der Höhle. Das Telefon klingelt und es ist sicher, nach drei bis vier Mal hebt jemand ab. Alles fließt, der Salon ist gut organisiert, unsere Rezeptionistin hat die Sache voll im Griff. Nun frage ich mich immer mal wieder, was ich hier eigentlich mache? Niemand braucht mich im fachlichen Tagesgeschäft. Ich fälle geschäftliche Entscheidungen im Hintergrund, kümmere mich ums Marketing, halte Kontakt zu meiner PR-Expertin, Social Media Marketern, AdWords Marketern, Soundspezialisten, Steuerberater, Wissenschaft, Geschäftspartner, und ich kümmere mich um die Entwicklung von Projekten. Das Tagesgeschäft berührt mich so gut wie nicht mehr. Und wissen Sie was? Genau das ist der Plan. Es ist ein Experiment. Das Problem dabei? Ich muss meine Position neu definieren.

Alternative Motivation

Ich will nicht nicht mehr den besten Haarschnitt oder die coolste Farbe machen, das können meine Mitarbeiter viel besser. Warum? Sie sind jung. Sie erfassen die Wünsche, den Lebensstil und die Kommunikation der jungen Generation automatisch, einfach weil sie selber jung sind und sich in derselben Lebenswelt bewegen. Sie sind die neue Generation. Wen außer mir interessiert es, ob ihre Leistungen immer MEINEN Anforderungen genügen? Jahrzehntelangen Stammkunden lassen sich mittlerweile von meinen jungen Mitarbeitern die Haare schneiden, färben und stylen und sie sind höchst zufrieden. Ich frage mich also: Machen mich meine 45 Jahre mehr Erfahrung automatisch zum besseren Haarschneider? Ich berate keine Farbe mehr, alle meine Mitarbeiter sind als Coloristen ausgebildet. Fachlich bin ich ausrangiert. Kein schönes Gefühl, aber Fakt. Strategie und Teil des Neustarts auf einer anderen Bühne.

Ein Beispiel

Eine meiner treuesten Kundinnen kommt zu mir seit 40 Jahren. Mittlerweile sind wir privat befreundet. Ihre Haare wurden langsam weißer, zum Übergang haben wir gesträhnt. Meiner Meinung nach hat das super ausgesehen. Diese Woche hat ihr meine Mitarbeiterin ein dunkleres Glossing empfohlen. Mir hat das Ergebnis nicht gefallen und ich habe meine Empfindung lauthals kund getan. Kundin und die anwesenden Mitarbeiter haben sich daraufhin solidarisiert und ich war ratzfatz raus aus der Nummer. Ich musste innerlich lachen. Was mich gefreut hat: Ich muss nicht mehr Recht haben. Das ist ein gutes Gefühl. Sie kriegt immer noch das dunklere Glossing. Manchmal ist Raushalten die bessere Alternative.

Selbstverständnis des Chefs

Es sollte möglich sein, den Betrieb mit Leitplanken zu versehen, die Mitarbeiter betriebswirtschaftlich und unternehmerisch zu schulen und sie dann an der langen Leine laufen zu lassen. Je mehr ich eingreife und mich über Kleinigkeiten aufrege, desto schlechtere Zeitqualität produziere ich für mich und die anderen. Ich bin kein Helikopter. Ich brauche eine Vertrauensperson im Salon, das ist ja unstrittig, denn einer muss Entscheidungen treffen können wenn der Chef nicht da ist. Aber ich greife nur nach Rücksprache in das Tagesgeschäft ein. Meist dann, wenn es Probleme, Unstimmigkeiten und Fehlverhalten gibt muss und eine Chef-Entscheidung getroffen werden muss. Das kann dann alles heißen: Freundschaftliches Gespräch, Krisengespräch, Entlassungsgespräch – egal was es ist, es muss getan werden. Wenn es im Karton rappelt muss ich ran.

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7 Kommentare
Sonja Väth says 13. September 2019

Super verfasst!

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    petergress says 14. September 2019

    Danke, Sonja, ich habe lange gebraucht, um ein vernünftiges Führungs-System dafür zu entwickeln. Dazu war ein radikaler erster Schritt notwendig, in dem ich mich stärker von meinen Mitarbeitern abhängig gemacht habe, weil ich mich nicht mehr fachliche Themen gekümmert habe. Das war erst extrem erschreckend, dann aber befreiend, weil ich auch als Chef meine Fehler habe und nicht an allen fachlichen Themen interessiert bin. Insofern war es einfach ein letzter konsequenter Schritt, allerdings einer mit gehörigem Angstpotential. Aber dazu sind wir ja Unternehmer, um Ängste fassbar zu machen und daraus zu lernen.

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Conny says 13. September 2019

WoW Peter – Nur mit echter Größe konntest du diesen Weg gehen Weiter so

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    petergress says 14. September 2019

    Conny, ich glaube, dass wir uns in der Führung unserer Mitarbeiter einiges mehr einfallen lassen müssen, um zu überleben. Ich merke bei uns, dass es immer schwieriger wird, die Finanzierung der qualitativ hochwertigen Aus- und Weiterbildung dauerhaft aufrecht zu erhalten, um dadurch die notwendige Arbeitsleistung für hohe Preise zu garantieren. Ich mag nicht daran denken, wie es in Salons aussieht, deren Preise zu niedrig sind.

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DECKER Willi says 14. September 2019

Lieber Peter, schön geschrieben ! Du bist in der Zeit und schaffst , was viele nie erreichen. Deine Zeilen sind auf dem Punkt. Es ist schön immer von Dir zu hören lesen etc pp. Unser haus steht Dir / Euch immer offen . Plan bei Deiner nächsten Reise über Hamburg einen Besuch und etwas Zeit mit ein. Auch von Yvonne ganz herzliche Grüße ! Fachlich wie von ganzen Herzen auch Privat. Schön das Du Deine Ideen mit allen kommunizierst ! Willi

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Klaus Tischer says 14. September 2019

Hallo Peter, wie sicher weißt, habe ich einen Stuhlmietladen!
Mein Bestreben geht in den nächsten Jahren dahin, das ich selbst in dem Laden keinen Stuhl mehr habe !
So das sich der Laden über die Stuhlmieten selber trägt und gewinne abwirft !
Als Trainer versuche ich das Niveau zu halten und auf einen 2.ten stuhlmietladen auszubauen !
Derzeit laufen Bewerbungen mit der Firma Davines, die übrigens extrem nachhaltig arbeitet !
Wo ich meine Trainertätigkeit in allen Bereichen weiter ergänzen kann !
Betriebswirtschaftlich muss ich da auch noch einiges dazulernen !
Lg Klaus Tischer

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    petergress says 5. November 2019

    Hallo Klaus, ab wann hast Du vor aus dem Laden auszusteigen? Sorry, dass ich mich so spät melde, aber Du kennst das Problem sicher, es ist nie genug Zeit da. ☺️Ich kenne Davines natürlich vom Namen her, aber gestatte mir die Frage: Worin liegt die Nachhaltigkeit bei Davines? Liebe Grüße! Peter

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